Was ist eine Hinsicht?

Während die drei bisher erläuterten Vergleichskomponenten Subjekt, Objekt und Relation in der Literatur vielfach behandelt wurden, ist die Hinsicht kein zentraler Begriff. Was ist diese Hinsicht? [1] Um eine Antwort zu geben, wird auf die – u. a. von Wilhelm Wundt und Alfred Schütz vorgenommene – Differenzierung zwischen Peripherie und Zentrum der Aufmerksamkeit zurückgegriffen: Die Peripherie ist die Gesamtheit der Bewusstseinsinhalte, denen wenig Bewusstseinskapazität zuteil wird; das Zentrum ist die Gesamtheit der Bewusstseinsinhalte, denen mehr Bewusstseinskapazität zuteil wird.[2]

Zusammengesetzte Vergleichsobjekte (im folgenden „Vergleichskomplex“), z. B. Gebäude, Menschen, Pflanzen, Tiere, Theorien, etc., werden meist in einer bestimmten Hinsicht verglichen. Dies erfordert eine zusätzliche Differenzierung: zwischen den Vergleichselementen des Vergleichskomplexes, die notwendig sind, damit der Vergleich in dieser Hinsicht möglich ist, und den Vergleichselementen des Vergleichskomplexes, die dafür nicht notwendig sind. Beispiel: Jemand möchte zwei Bücher in Hinsicht auf deren Größe vergleichen. Beide Bücher sind Vergleichskomplexe, also aus Elementen zusammengesetzt, die man vergleichen kann. Für den Vergleich der Bücher in Hinsicht auf deren Größe sind nicht alle, sondern nur die visuellen oder taktuellen Vergleichselemente notwendig; geschmackliche Vergleichselemente sind dafür nicht notwendig.

Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass diese Differenzierung ebenfalls durch eine ungleiche Verteilung der Bewusstseinskapazität erfolgt:[3] Die Hinsicht ist die Gesamtheit der Vergleichselemente, denen am meisten Bewusstseinskapazität zuteil wird; mehr als den Vergleichselementen des Zentrums. Wenn man sagt, dass man zwei Bücher in Hinsicht auf deren Größe vergleiche, dann geht man implizit von einer solchen Dreiteilung der Aufmerksamkeit aus: die Aufmerksamkeit wendet man den beiden Büchern zu, nicht aber den Tischen, Stühlen oder Menschen. Und im Besonderen wendet man die Aufmerksamkeit der Größe der beiden Bücher zu, nicht aber deren Farbe, Geruch, Alter etc. Die von Schütz und Wundt vertretene „Zwei-Klassen“-Hypothese des Bewusstseins kann man zu einer „Drei-Klassen“-Theorie ergänzen.[4]

hinsicht-03-12-08

Im Folgenden beschränkt sich die Darstellung auf mögliche Hinsichten; davon zu unterscheiden sind Absichten oder Aufforderungen, etwas in einer bestimmten Hinsicht zu vergleichen. Beispiel: Zwei Gedanken sollen in Hinsicht auf deren Farbe verglichen werden. Die Absicht oder Aufforderung zu diesem Vergleich ist möglich, der Vergleich in dieser Hinsicht dagegen nicht.

Außerdem gilt es zu unterscheiden zwischen der Hinsicht auf ein Objekt, einen sprachlichen Ausdruck und einen Begriff. Beispiel: Wenn die Hinsicht auf a) ein rotes Objekt, b) das Wort „Rot“ und c) den Begriff >Rot< gerichtet ist, dann ist die Hinsicht auf a) etwas Rotes, b) etwas Schwarzes auf weißem Papier, c) etwas Nichtfarbliches gerichtet.

1.1.1 Bestimmung der Hinsicht

Wenn man davon ausgeht, dass es sich bei der Hinsicht um eine Aufmerksamkeitsklasse handelt, dann kann man die Hinsichten nach der benötigten Kapazität und dem Umfang bestimmen.

1. Kapazität. Die Aufmerksamkeitskapazität, die den Vergleichselementen der Hinsicht zuteil wird, ist größer als die Kapazität, die den Vergleichselementen des Aufmerksamkeitszentrums zuteil wird. Die Differenz zwischen diesen beiden Kapazitäten muss wenigstens über der Unterschiedsschwelle liegen, denn andernfalls wäre für das Subjekt kein Unterschied zwischen Hinsicht und Zentrum erkennbar. Die Aufmerksamkeitskapazität ist maximal so groß, dass Kapazität für wenigstens ein Vergleichselement der Peripherie und wenigstens ein Vergleichselement des Zentrums übrig bleibt, denn andernfalls gäbe es keine Peripherie und kein Zentrum. Vereinfacht kann man die drei Aufmerksamkeitsklassen bezüglich der Kapazität K, die den Klassenelementen zuteil wird, folgendermaßen charakterisieren:

K Peripherie < K Zentrum < K Hinsicht .

2. Umfang. Der Umfang der Hinsicht beinhaltet wenigstens ein Vergleichselement, denn andernfalls gäbe es die Hinsicht nicht. Der Umfang der Hinsicht beinhaltet maximal ein Vergleichselement weniger als der Umfang des Aufmerksamkeitszentrums, denn andernfalls könnte man zwischen Hinsicht und Zentrum nicht unterscheiden. Vereinfacht und tendenziell kann man die drei Aufmerksamkeitsklassen bezüglich des Umfangs U folgendermaßen charakterisieren:

U Peripherie > U Zentrum > U Hinsicht .

Tendenziell gilt, dass die den Vergleichselementen der Hinsicht maximal zuteil werdende Aufmerksamkeitskapazität umso geringer ist, je größer der Umfang der Hinsicht ist. Denn je größer der Umfang, desto mehr Vergleichselemente müssen sich die Kapazität teilen.

Bezüglich der Ausrichtung des Umfangs gilt, dass Peripherie und Zentrum sowie Zentrum und Hinsicht zueinander stehen wie Ganzes und Teil: die Peripherie ist der Hintergrund, aus dem ein Teil (nämlich die zu vergleichenden Objekte) hervorgehoben wird, indem diesem Teil mehr Kapazität zuteil wird. Aus diesem Teil, dem Zentrum, wird wiederum ein Teil (die Vergleichselemente, die für den Vergleich in dieser Hinsicht notwendig sind) hervorgehoben, indem diesem Teil noch mehr Kapazität zuteil wird. Das Zentrum kann lediglich innerhalb der Peripherie, und die Hinsicht lediglich innerhalb des Zentrums wechseln.

In Kapitel 3 wurde erläutert, dass sich wissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Vergleiche in den Anforderungen an Bewusstseinskapazität und -umfang unterscheiden. Das dort Geschriebene gilt auch für die Hinsicht.

1.1.2 Einfache und zusammengesetzte Hinsicht

Wenn man von einer Hinsicht spricht, so differenziert man dabei meist nicht, ob es sich um eine einfache oder eine zusammengesetzte Hinsicht handelt:

Eine einfache Hinsicht ist auf ein, mehrere oder alle Vergleichselement(e) einer Dimension gerichtet. Diese(s) Vergleichselement(e) kann bzw. können Teil mehrerer (zusammengesetzter) Vergleichsobjekte sein. Dann wird entweder Gleichheit oder Ungleichheit erkannt, denn die Vergleichselemente einer Dimension sind entweder gleich oder ungleich. Beispiel: Zwei Menschen sollen in Hinsicht auf ihre Stimmhöhe verglichen werden. Beide Stimmhöhen sind Vergleichselemente einer Dimension, der Tonhöhendimension. Zwei Tonhöhen sind entweder gleich oder ungleich.

Eine zusammengesetzte Hinsicht ist auf Vergleichselemente mehrerer Dimensionen gerichtet. Dann wird entweder Identität, Ähnlichkeit oder Gegensatz erkannt.[5] Ein Beispiel für eine Hinsicht, die aus zwei einfachen Hinsichten zusammengesetzt ist, ist die Hinsicht auf die Fläche: Eine der einfachen Hinsichten ist auf die Länge, die andere auf die Breite gerichtet. Man kann die Fläche nicht messen, wenn man auf die Länge, die Breite oder beides nicht achtet. Ein Beispiel für eine Hinsicht, die aus mehreren einfachen Hinsichten zusammengesetzt ist, ist die Hinsicht auf das Geschlecht. Im Vergleich zur Hinsicht auf die Geschwindigkeit ist es schwieriger zu bestimmen, aus welchen einfachen Hinsichten die Hinsicht auf das Geschlecht besteht. Diese einfachen Hinsichten sind – in alltäglichen Interaktionssituationen – u. a. die Stimmhöhe, die Körpergröße und sonstige Gesichts- und Körperproportionen.[6] Man kann das Geschlecht nicht sehr zuverlässig bestimmen, wenn man weder auf Stimmhöhe, Körpergröße noch Gesichtsproportionen achtet.

einfache-und-zusammengesetzte-hinsicht-05-12-08


Wissenschaftliche Begriffe sollen präziser und eindeutiger sein als nicht-wissenschaftliche Begriffe. Dies erfordert eine möglichst genaue Bestimmung der Anzahl und Art der Hinsichten. Z. B. wird durch eine Operationalisierung des Begriffs >Geschlecht< mehr oder weniger genau festgelegt, in welchen Hinsichten der Untersuchungsgegenstand verglichen werden soll.

Bei manchen sozialwissenschaftlichen Vergleichen werden tendenziell eher zusammengesetzte Hinsichten verwendet, und zwar wohl solche, die aus vielen Hinsichten zusammengesetzt sind, z. B. Geschlecht. Und oftmals wird nicht präzise und eindeutig bestimmt, aus welchen einfachen Hinsichten eine zusammengesetzte Hinsicht besteht. Soweit ich weiß, werden bei manchen der übrigen Wissenschaften, z. B. Physik oder Chemie, dagegen tendenziell eher einfache Hinsichten (z. B. Zeit, Länge, Höhe) verwendet bzw. solche zusammengesetzten Hinsichten, die aus wenig Hinsichten zusammengesetzt sind (z. B. Geschwindigkeit: Länge und Zeit).

1.1.3 Anzahl der möglichen Hinsichten

Entgegen der Annahme, man könne Objekte in unendlich vielen Hinsichten vergleichen, wird im Folgenden gezeigt, dass die Anzahl endlich und exakt bestimmbar ist.[7] (Unendlich mag dagegen die Anzahl der möglichen Aufforderungen sein.) Man kann unterscheiden zwischen der möglichen Mindest- und Maximalanzahl der einfachen Hinsichten und der möglichen Mindest- und Maximalanzahl der zusammengesetzten Hinsichten. Man kann von folgendem Grundsatz ausgehen: Die Anzahl der möglichen einfachen oder zusammengesetzten Hinsichten ist gleich der Anzahl der Dimensionen, die die Vergleichsobjekte gemeinsam haben.[8]

Einfache Hinsichten. Die Mindestanzahl der einfachen Hinsicht ist gleich zwei, nämlich in Hinsicht auf die Sinnesqualität und die Zeit. Denn Sinnesqualität und Zeit sind Variablen, die allen Vergleichselementen gemeinsam sind. Beispiel: Ein Farbpunkt kann wenigstens in Hinsicht auf die Sinnesqualität und Zeit mit jedem beliebigem Vergleichsobjekt verglichen werden.[9]

Die Maximalanzahl der einfachen Hinsicht ist gleich der Anzahl der Dimensionen, die die Vergleichsobjekte gemeinsam haben. Beispiel: Zwei Farbpunkte haben – neben der Qualität und der Zeit – fünf zusätzliche Dimensionen gemeinsam: Farbton, Sättigung, Helligkeit, Höhe, Breite.[10] Insgesamt können somit zwei Farbpunkte in sieben Hinsichten verglichen und als gleich oder ungleich erkannt werden.

Zusammengesetzte Hinsichten. Vergleichsobjekte können nur dann in zusammengesetzten Hinsichten verglichen werden, wenn die Objekte zusammengesetzt sind, und wenn die Objekte wenigstens zwei Dimensionen gemeinsam haben. Beispiel: Eine Linie kann nicht in Hinsicht auf die Flächengröße, die aus den einfachen Hinsichten Länge und Breite besteht, verglichen werden.

Die Mindestanzahl[11] der zusammengesetzten Hinsicht ist gleich eins, nämlich in der zusammengesetzten Hinsicht auf die Sinnesqualität und die Zeit.

Die Maximalanzahl der zusammengesetzten Hinsicht ist gleich: 2n – (n-1); n ist gleich der Anzahl der Dimensionen, die die Vergleichsobjekte gemeinsam haben. Beispiel: Farbpunkte haben sieben Dimensionen gemeinsam. Dann ist die Maximalanzahl der zusammengesetzten Hinsicht 120.[12]

 


 

[1] Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass „Hinsicht“, „Gesichtspunkt“, „Fixpunkt“ sowie „in Hinsicht auf“ und „im Hinblick auf“ synonym sind.

[2] Vgl. Teilkapitel 3.3.2.

[3] Vgl. Brunswig, A., Vergleichen, 1910, S. 80: „Soll ich z. B. zwei Töne hinsichtlich ihrer Höhe vergleichen, so achte ich speziell auf das Merkmal der Höhe in jedem Ton, nicht auf die Stärke.“

[4] „Klasse“ meint hier die Gesamtheit (die „Klasse“) der Bewusstseinsinhalte, denen die gleiche Bewusstseinskapazität zuteil wird. Schütz nennt diese Klassen „Horizont“ und „Thema“ (vgl. ders., Relevanz, 1971, S. 29-30), Wundt nennt diese Klassen „Blickfeld“ und „Blickpunkt“ (vgl. ders., Grundzüge, 1880, S. 206).

[5] Vgl. Abschnitt 5.3.

[6] Die Hinsicht auf geschlechtsspezifische Verhaltensweisen, Einstellungen etc. sind keine einfachen, sondern zusammengesetzte Hinsichten.

[7] Vgl. u. a. dagegen Weber, M., Objektivität, 1964, S. 224, demzufolge ein Forscher „jene Gesichtspunkte … aus einer absoluten Unendlichkeit … als das herausgehoben hat, auf dessen Betrachtung es ihm allein ankommt.“ (Kursiv im Original, Unterstreichung nicht im Original)

[8] Vgl. Zelditch, M. Jr., comparisions, 1971, S. 267: „(Comparability). Two or more instances of a phenomenon may be compared if and only if there exists some variable, say V, common to each instance.“ (Kursiv nicht im Original) Für Zelditch ist diese Regel zusammen mit drei weiteren die logische Grundlage der vergleichenden Forschung.

[9] Ein gegebenes und nicht vergleichbares Objekt ist daher nicht möglich (Dem widerspricht nicht, dass u. a. Vergangenes nicht vergleichbar ist: denn Vergangenes ist gar nicht gegeben).

[10] Genauer gesagt müsste man beim Farbton wiederum drei Dimensionen unterscheiden, nämlich die Rot-, Grün- und Blaudimension.

[11] Mindest- und Maximalanzahl meint nicht die Anzahl der einfachen Hinsichten, die zu einer zusammengesetzten Hinsicht verbunden sind, sondern eben die Anzahl der zusammengesetzten Hinsichten, unabhängig davon, aus wie vielen einfachen Hinsichten diese zusammengesetzt sind.

[12] Nämlich eine aus sieben Hinsichten zusammengesetzte Hinsicht; sieben aus sechs Hinsichten zusammengesetzte Hinsichten; 21 aus fünf Hinsichten zusammengesetzte Hinsichten; 35 aus vier Hinsichten zusammengesetzte Hinsichten, 35 aus drei Hinsichten zusammengesetzte Hinsichten; 21 aus zwei Hinsichten zusammengesetzte Hinsichten.